Kants Kategorischer Imperativ

Kants Konzept des ‚Kategorischen Imperativs‘ aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft gehört zu den bekanntesten und zugleich häufig missverstandenen Philosophemen von Kants Philosophie (wie auch z.B. das ‚Transzendentale Ego‘ oder das ‚Ding an sich‘). – Deswegen hier einmal der Versuch, das Argument, ein wenig gestaucht, zum Mitnehmen zu reformulieren: Das Ganze basiert auf einer Einsicht der praktischen Vernunft, einer ‚Interpretation‘, wenn man so will, der Vernunft durch die Vernunft: Weil wir vernünftig sein können, sollen wir es auch, weil wir wissen können, dass wir es können. Andernfalls würden wir uns freiwillig in die irrationale Dunkelheit begeben (und das will ja keiner… oder?) Zunächst ein paar Grundüberlegungen: Eine Definition (de-finitio) ist eine Begrenzung von etwas, das in seiner Abgeschlossenheit und in seinen wesentlichen Eigenschaften benannt werden kann. Menschliches Handeln ist per se (als ‚praxis‘) zunächst ein Vollzug und daher nur im Nachhinein de-finierbar (eine Handlung war so-und-so, das-und-das). Auch wenn wir aus einem solchen Pool von Bedeutungen üblicherweise auch zukünftiges Handeln beschreiben, hält das keiner philosophischen Kritik stand (weil sonst die Grundlage menschlichen Handelns, die notwendige Annahme menschlicher Freiheit als seine Voraussetzung, in Frage gestellt würde = reflexiv inkonsistent oder performativer Widerspruch).

Davon ausgehend müssen wir etwas finden, was allen Handlungen – vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen – insofern sie Handlungen sind notwendig zugesprochen werden muss, sofern (!) diese Handlungen außerdem moralisch bewertbar sein sollen. Was wir aber allen Handlungen zusprechen müssen ist eine ‚Richtung‘, die sich in einem bestimmten Willen äußert. D.h. um eine Handlung moralisch zu bewerten, müssen wir unterstellen, dass mit Ihr eine Absicht verbunden ist. Diese Absicht ist allerdings, wie die Handlung als abgeschlossene Handlung selbst, nur im Nachhinein bestimmbar, wenn überhaupt. Also muss ein moralischer Imperativ grundsätzlich die Form eines kategorischen Imperativs annehmen, d.h. eines Imperativs für jede mögliche (denkbare) Handlung, sofern (!) es möglich sein soll, sie moralisch zu bewerten. Der Imperativ betrifft also die (logische) Bedingung der Möglichkeit jeglicher Handlung. Da wir aber von allen möglichen Absichten sprechen, können wir nun nicht jede einzelne Absicht durchgehen. Wir brauchen etwas, von dem unser konkretes Handeln als im Vorhinein richtig ausgeht, etwas, an dem es sich orientiert. Wir brauchen eine Handlungsmaxime, d.h. eine Hinsicht auf die Handlungsabsicht, als denjenigen Aspekt einer Handlung, in dem eine Übereinstimmung oder Vollkommenheit mit den eigenen Überzeugungen und Interessen angestrebt wird. Wenn ich handle, dann äußert sich in diesem Handeln eine bestimmte Absicht, die ich dadurch rechtfertige, dass ich mich auf eine bestimmte Überzeugung berufe, von der ich der Meinung bin, dass sie richtig und anerkannt ist. Das ist die Maxime der Handlung.

Wir dürfen dabei nicht vergessen: Kant geht es nicht um eine Ontologie menschlicher Handlungen oder um das bloße Aufstellen von moralischen Vorschriften. Sondern es geht ihm darum, den Menschen – das sind wir, seine Leser – vermittels einer Argumentation den Grund einsehen zu lassen, warum und wie moralische Urteile über menschliche Handlungen vernünftig rechtfertigbar sind. Seine Argumentation diktiert nicht, sie argumentiert. Das einzige echte Postulat, von dem sie ausgeht, ist, dass der Mensch die Welt als vernünftig eingerichtet, als zweckmäßig betrachten kann. Es geht ihm also um die logische Begründbarkeit von moralischen Urteilen.

Das bedeutet: (1) der kategorische Imperativ besteht nicht in einem einzelnen Satz (sowenig, wie der grammatische Imperativ auf „geh!“ oder „sitz!“ reduziert werden kann), sondern in der Struktur der Rückwendung der Vernunft auf sich selbst in kritischer Absicht: wenn ich wissen will, ob meine Handlung gut war, dann kann ich mich auf sie hinsichtlich dessen zurückwenden, was für sie, unabhängig von ihrem konkreten Vollzug, aus Vernunftgründen gelten soll. (2) Deswegen sind in den folgenden Formulierungen des kategorischen Imperativs auch die ‚Maxime‘, der ‚Wille‘ (die Handlungsabsicht) und das ‚zugleich‘ wichtig: Das ‚zugleich‘ bedeutet: Dein einzelnes, konkretes Handeln soll zugleich (im selben Zug, in derselben Bewegung) auf sich selbst in bestimmter Weise reflektieren:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

„Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.“

Wichtig ist: Es handelt sich hier nicht nur um Handlungsanweisungen, sondern auch um die philosophische Begründung von Kriterien zur Prüfung des eigenen Handelns. Wenn man sein eigenes Handeln moralisch prüfen will, dann indem man sich fragt, ob die Maxime des eigenen Handelns es für einen selbst erlaubt, dass sie – für einen selbst und jeden anderen – allgemeines Gesetz werde. Die Maxime ist hier das Reflexive: Durch sie wird etwas als etwas gerechtfertigt (wichtig: wird gerechtfertigt, nicht: ist schon gerechtfertigt!). Das was das bestimmt, was gerechtfertigt wird, ist der Wille. – Also: man reflektiert auf die eigene Handlungsabsicht – man reflektiert auf den Aspekt der eigenen Handlungsabsicht, welche die eigenen Überzeugungen betrifft (Maxime), also das, was man an ihr für verallgemeinerbar hält. – Man reflektiert schließlich hypothetisch darauf (‚zugleich‘), ob die Absicht, die Maxime der eigenen Handlung als allgemeines Gesetz zu wollen, das also dann auch für einen selbst noch gelten, einem selbst vorgeschrieben werden könnte von anderen, mit dem Vernunftinteresse (Übereinstimmung, Vollkommenheit, Vollständigkeit usw.), d.h. mit dem Postulat, dass die Welt vernünftig eingerichtet sein soll, übereinstimmt. Verglichen wird also die Verallgemeinerung der Maxime einer Handlung damit, ob sie hinsichtlich des eigenen Wollens als vernünftig eingesehen oder als unvernünftig verworfen werden muss. D.h.: Man kann jederzeit auch unmoralisch handeln. Aber man kann dieses Handeln dann nicht mehr vor anderen vernünftig rechtfertigen.

Wie man sieht, ist damit eine Reflexion, eine Rückwendung auf das eigene Handeln angesprochen. Und in dieser Rückwendung wird dafür argumentiert, dass allein der Ausgang von einem Vernunftinteresse die Begründbarkeit der eigenen Handlungen in moralischer Hinsicht ermöglicht – aber dass, wenn von einem solchen Vernunftinteresse ausgegangen wird, das Argument zwingend ist. Das ‚Vernunftinteresse‘ ist dabei nicht irgendetwas Metaphysisches, sondern das, was wir alle kennen: wir haben ein intrinsisches Interesse daran, dass eine Aussage nicht widersprüchlich ist, wenn sie eine Behauptung aufstellt, die für alle gelten soll oder dass etwas nicht alleine dadurch wahr ist, weil es gesagt oder gemeint wird. Wir streben danach, dass unser Denken mit sich und mit anderen übereinstimmt – und noch jeder Skeptiker oder Relativist strebt diese Übereinstimmung hinsichtlich der Anerkennung der Unmöglichkeit einer Übereinstimmung an. – Wir haben ein Interesse daran, dass Alles gesagt wird; wir streben nach Vollständigkeit; wir streben nach einer Befriedigung in unserem Fragen und Streben, danach, im Denken zur Ruhe zu kommen. Noch der zynischste oder polemischste Kommentar will etwas anderem ein Ende setzen, will seine eigene Sichtweise durchsetzen, sobald er öffentlich beachtet werden will. Wir wollen schließlich, dass die Welt einen Zusammenhang für uns besitzt, dass wir uns in ihr orientieren können. Dieses Interesse ist es, was Kant voraussetzt. Und dass Handeln eine Absicht hat und einer bestimmten Maxime folgt. –

Mit dem kategorischen Imperativ wird die moralische Instanz in den Bereich der Vernunft (des vernünftigen Nachdenkens) jedes Einzelnen verlegt. Und weil wir Handlungen zwar nur nachträglich beurteilen können, aber wir eine solche Nachträglichkeit uns in Bezug auf eine bestimmte Handlung vorstellen können und weil wir sie uns nicht nur hinsichtlich ihrer Bestimmtheit ansehen, sondern auch hinsichtlich der Maxime, die sie in Anspruch nimmt und diese Maxime beurteilen – können wir auch unsere möglichen Handlungen moralisch beurteilen. Um mehr geht es nicht. – Die Voraussetzungen und Grenzen dieser Argumentation der praktischen Vernunft sind deutlich: Man muss sein eigenes Handeln realistisch einschätzen können wollen und nicht unter dem Eindruck irgendeiner Ideologie handeln. Ausgangspunkt ist eine rationale Begründung, keine ontologische Einschätzung. – Wer sich ansehen möchte, wie Kant den Menschen auch gesehen hat, der werfe einen Blick in die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, entstanden aus Vorlesungen, die Kant während der knapp 25 Jahre der Niederschrift eines kritischen Programms gehalten hat. Dort – und nicht in der prinzipiell logisch angelegten Kritischen Philosophie Kants – findet sich all das, was den Menschen in seinen Niederungen und Pathologien ausmacht: Rachsucht, Machtspiele, geistige Krankheiten, unbewusste Motivationen, das soziale Spielen mit Rollen und Höflichkeiten, Egoismus und Modegeschmack.

Aus Die Kunst der Rechtfertigung – „Kants Kategorischer Imperativ – die Kurzfassung zum Mitnehmen